Der Dingler-Windkanal: Von Zweibrücken ins Ötztal und schließlich in die französischen Savoyer Alpen
Der Dingler’sche Windkanal: Im Bau gegen Ende des 2. Weltkrieges in der Gemeinde Haiming bei Innsbruck, Österreich (oben) - und heutiger Zustand in Modane / Avrieux, Savoyer Alpen, Frankreich (mittleres Bild). Die große silbern schimmernde Röhre ist die Dingler’sche Anlage, umgeben von weiteren Windkanälen und Nebenanlagen (im Bild weiter oben rechts). Die Gesamtanlage wird betrieben von der französischen Institution ONERA (das ist: Office national d’études et de recherches aérospatiales), eines der weltweit bedeutendsten Zentren aerodynamischer Untersuchungen
(Quellen: Archiv des Deutsches Zentrums für Luft- und Raumfahrt / Göttingen (Bild ganz oben, Rechteinhaber nicht bekannt); mittleres Bild: Creative Commons / Lizenz CC BY-SA 3.0 /https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)
Größter Ventilator der Fa. Dingler (Inbetriebnahme 1952) mit einem Durchmesser von 15 m und einer Antriebsleistung von 88.000 kW für den transsonischen, also überschallnahen Windkanal ONERA S1MA im Testzentrum von Modane / Avrieux / (Frankreich)(die Abkürzung steht für Soufflerie 1, Modane / Avrieux). Diese Bezeichnung des Windkanals verwendet ONERA bis heute. Die Person neben dem unteren senkrecht stehenden Ventilatorflügel verdeutlicht die Größe des Ventilators.
(Foto: Mit freundlicher Genehmigung von TLT-Turbo / Zweibrücken 2022)
Worum es geht...
Schon seit den 1870er Jahren hatten die Dinglerwerke ihre Kompetenz im Bereich der Lufttechnik systematisch ausgebaut (z.B. im Hinblick auf Verdichter / Kompressoren, s. Start dieser Webseite). Frühe großtechnische Anwendungen für die lebenswichtige Bewetterung von Bergwerken, also die ununterbrochene Zufuhr von Frisch- und das Absaugen der Abluft, waren Radialventilatoren (Luftführung in Bezug auf die Achse kreisförmig).
Seit den 1930er Jahren gehörte Dingler dann zu den wenigen Spezialisten in Deutschland, denen man die komplizierte Konstruktion von Windkanälen anvertraute, also Anlagen für aerodynamische Untersuchungen an umströmten Körpern (Flugzeuge, Raketen, Formel 1-Rennwagen, Bauwerken usw.). Mit der rasanten Entwicklung der zivilen und militärischen Flugzeugindustrie nach dem 1. Weltkrieg gewann die Windkanalentwicklung höchste Bedeutung, zumal die Geschwindigkeit des erforderlichen Luftstroms bis an die Schallgrenze erhöht werden musste --- schließlich auch weit darüber hinaus.
Orkan in der Röhre, so lautet sehr anschaulich der Untertitel eines gerade erschienenen Fachbuchs über die Geschichte der Windkanaltechnik und ihren Anwendungen, und die oben gezeigten Bilder lassen die Bedeutung dieses Felds erahnen (s.u.).
Wie es dazu kam...
Zu Anfang des 2. Weltkriegs machte das Reichsluftfahrministerium (RLM / Berlin) das Zweibrücker Unternehmen Dingler zum Generalunternehmer für den Bau des bis dahin größten Windkanals weltweit, und zwar in der Gemeinde Haiming an der Mündung der Ötztaler Ache in den Inn (ca. 40km westlich von Innsbruck). Der Windkanal sollte den höchsten Anforderungen für die aerodynamische Hochgeschwindigkeitsprüfung von Flugzeug- und Raketenmodellen bis zu 1.200 km/h genügen. Bei Kriegsende war die Hülle des Windkanals aber nur teilweise fertig erstellt (s. Bild oben links).
Der Antrieb des Luftstroms im Windkanal erforderte einen sehr speziellen und bis heute weltweit größten Windkanalventilator (siehe nachstehendes Bild), der ebenfalls von Dingler hergestellt wurde. Die Lieferung so großer Axialventilatoren (Luftführung im Ventilatorgehäuse in Bezug auf die Achse parallel) stellte für das Unternehmen eine besondere Herausforderung dar, zumal Dingler mit der Konstruktion und Fertigung dieses Ventilatortyps insbesondere für Windkanäle erst ca. Anfang der 1930er Jahre begonnen hatte. Hervorzuheben ist, dass von den 1870er Jahren bis zu diesem Zeitpunkt nur Radialventilatoren produziert worden waren.
Nach Kriegsende setzte zwischen den westlichen Alliierten ein dramatisches Tauziehen um Fertigstellung und endgültigen Verbleib der Anlage ein. Selbst als diese Entscheidung für Frankreich gefallen war, versuchten ehemalige Verbündete den Transport der für den Wiederaufbau benötigten Teile in Avrieux (Kanton Modane / Savoyer Alpen) zu behindern, und die Inbetriebnahme konnte erst 1952 erfolgen.
Das oben gezeigte Bild (rechts) verdeutlicht die heutigen Dimensionen des silbrig glänzenden ringförmigen Gebäudes inmitten der Gesamtanlage in Avrieux, bis heute erweitert um drei weitere Überschall-Kanäle (rechts im Bild). So ist aus der ersten Anlage mit den folgenden Erweiterungen und Modernisierungen eines der weltweit führenden aerodynamischen Versuchszentren entstanden, in dem z.B. bis heute Airbus-Modelle getestet werden.
Die Dingler-Werke in Zweibrücken konnten nach Kriegsende nur vor der kompletten Demontage gerettet werden, weil der neue Eigentümer auf die speziellen Kompetenzen der Mitarbeiter des Werks für den Abbau im Ötztal und den Wiederaufbau in Avrieux angewiesen war. Das trug wesentlich zur wirtschaftlichen Erholung Zweibrückens nach dem 2. Weltkrieg bei.
Für den Neubau und die Weiterentwicklung zweier zusätzlicher Überschall-Windkanäle (bezeichnet als S2AM, S3AM) zeichneten ebenfalls die Dingler-Werke verantwortlich. Nach der Ausgliederung ihrer früheren Abteilung Gebläse- und Windkanaltechnik 1970 wurden die Anlagen über Jahrzehnte vom dadurch neu entstandenen Unternehmen Turbo-Lufttechnik durch Komplett- und Teilelieferung sowie Wartungsarbeiten begleitet (heute TLT-Turbo GmbH, Zweibrücken).
Quellen: Ludwig, Hans (1992) Die Industrialisierung Zweibrückens "Die Dinglerwerke": Zweibrücken (Pfalz), Bierbach (Saar), Ilsenburg (Harz) und Polysius (Sachsen-Anhalt); ein Stück deutscher Industriegeschichte; die historische Aufarbeitung der Industriestadt Zweibrücken. Zweibrücken; Dingler’sche Maschinenfabrik AG (Hrsg.) (1927) 100 Jahre Dingler. Zweibrücken; Pierre, Marcel (2007) De la naissance et de la majorité d’un centre d’essais aéronautique. In: AAO – Bulletin de l’Association des anciens de l’Onera (hors série, avril 2007, S. 13-16 (Wiederabdruck eines zuerst 1966 veröffentlichten Beitrags); bzi – Berliner Zentrum für Industriekultur (Hg.) (2021) Treptow – Köpenick: Berliner Industriekultur – Die Metropole neu entdecken (= Berliner Schriften zur Industriekultur, Band 2); Ahlbrecht, Bernd-Rüdiger et al. (2022) Windkanäle: Der Orkan in der Röhre. Die Geschichte der deutschen Versuchsanlagen vom 19. Jahrhundert bis heute. Erfurt